Great Resignation erreicht Europa: Wie Unternehmen die Kündigungswelle vermeiden
In den USA haben im vergangenen Jahr 45 Millionen Arbeitnehmende ihren Job gekündigt – so viele wie nie zuvor. Die Folgen sind im Alltag der Amerikaner zu spüren. Nun scheint die „Great Resignation“ auch Europa zu erreichen. Nie waren die Beschäftigten hierzulande gestresster, unzufriedener und wechselwilliger als aktuell. Woran das liegt und was Arbeitgebende tun können, um ihr Personal zu halten.
Corona hat vieles verändert – auch auf dem Arbeitsmarkt. Viele Arbeitnehmende haben die Lockdowns dafür genutzt, sich Gedanken über ihre aktuelle Arbeits- und Lebenssituation zu machen. Beschäftigte in gewissen Branchen waren schlicht dazu gezwungen, sich andere Jobs zu suchen. Gerade in den USA, wo es keine Kurzarbeit und kaum gesetzlichen Kündigungsschutz gibt. Frauen hatten selten eine andere Wahl, weil sie sich plötzlich ganztägig um die Kinder kümmern mussten. Andere nahmen sich Bewusst eine Auszeit vom Beruf oder gingen früher in Rente als geplant.
Machtverhältnis auf dem Arbeitsmarkt hat sich geändert
Die historische Kündigungswelle wird in den Vereinigten Staaten als „Great Resignation“, „Big Quit“ oder auch als „The Great Talent Migration“ bezeichnet. Denn dahinter steckt mehr als die blanke Not. Es ist der Wunsch nach besseren Arbeitsverhältnissen, die Suche nach dem Sinn. Die Menschen wollen arbeiten, um zu leben. Nicht leben, um zu arbeiten. Sie wollen, dass Arbeitgebende ihre Bedürfnisse ernst nehmen und endlich auch befriedigen. Sie resignieren in Masse und drehen dadurch endgültig das Machtverhältnis auf dem Arbeitsmarkt.
Die Corona-Pandemie sorgte auch in Deutschland dafür, dass sich zur beruflichen Unzufriedenheit für viele die berufliche Unsicherheit gesellte. Für zahlreiche Angestellte war das ein völlig neues Gefühl. Sind die Deutschen es durch ein starkes Arbeitsgesetz doch gewohnt, zumindest einen verhältnismäßig sicheren Arbeitsplatz zu haben. Hinzu kommen Instrumente wie die weltweit bewunderte Kurzarbeit und ein stabiles Sozial- und Gesundheitssystem. Wir klagen häufig auf hohem Niveau. Hieß es doch gerade zu Beginn der Pandemie: Wenn schon eine Pandemie, dann darf man sich glücklich schätzen, sie in Deutschland erleben zu müssen.
Mitarbeitende sind so wechselwillig wie nie
Und doch wirkte die Corona-Pandemie auch auf dem Arbeitsmarkt als Katalysator. Sie hat die Emanzipation vom Arbeitsplatz beschleunigt, indem sie ganz neue Anforderungen an die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben stellte. Schon die Verweigerung einer ausreichenden Anzahl an Homeoffice-Tagen führt heute dazu, dass Mitarbeitende kündigen. Die Erfahrung machen mittlerweile selbst Unternehmen wie Google, die lange Zeit zu den begehrtes Arbeitgebenden der Welt zählten. Die Zeiten, als Flexibilität eine von den Unternehmen geforderte Einbahnstraße war und sich Arbeitnehmende mit dem Alibi-Obstkorb zufriedengaben, sind vorbei.
Das belegen auch mehrere Umfragen und Studien, die in den vergangenen Wochen und Monaten erschienen sind. Der Gallup Engagement Index fördert zutage, dass jeder vierte Arbeitnehmende angibt, in einem Jahr nicht mehr bei seinem jetzigen Arbeitgebenden zu sein. 42 Prozent wollen innerhalb von drei Jahren den Job wechseln. Eine XING-Studie zeigt, dass jeder vierte seinen Job kündigt, ohne eine neue Stelle in Aussicht zu haben. Und auch eine StepStone-Studie zeigt, dass 40 Prozent der Arbeitnehmenden aktiv auf Jobsuche sind und 43 Prozent offen für einen neuen Arbeitsplatz sind. Nur jeder Siebte denke nie daran, zu wechseln. Jeder Dritte dafür sogar wöchentlich.
Stresslevel auf Rekordniveau, Unzufriedenheit mit Führungskräften
Einen Grund dafür ist der ebenfalls vom Meinungsforschungsinstitut Gallup erhobene Stresslevel von Arbeitnehmenden. Der liegt neuesten Zahlen zufolge mit 44 Prozent auf Rekordniveau. Im Ursprungsland der „Great Resignation“, den USA, sind es sogar 52 Prozent. Taucht man tiefer ein in die Zahlen der Studie „State of the Global Workplace 2022“, dann zeigt sich, dass die Menschen in Europa zwar prinzipiell zu den glücklichsten gehören, aber mit ihren Führungskräften am unzufriedensten sind.
Eben diese Unzufriedenheit führt dazu, dass die Bindung an den Arbeitsplatz nachlässt. Nur noch 17 Prozent der Arbeitnehmenden sagen von sich, dass sie eine emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgebenden habe. Was zunächst nur für schlechte bezahlte Dienstleistungsberufe galt, hat längst weite Teile des Arbeitsmarktes erreicht.
Work-Life-Balance wichtiger als Geld
Den unzufriedenen Mitarbeitenden geht es nicht ums Geld. Sie sind immer weniger dazu bereit, für die Karriere persönliche Einbußen hinzunehmen. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass immer weniger Arbeitnehmenden für einen neuen Job umziehen würden. Stattdessen fordern sie Arbeitsbedingungen, die eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ermöglichen. Dennoch spielt der Verdienst eine Rolle. Gerade in den Branchen, in denen der Mindestlohn das Gehaltsgefüge dominiert, sind viele Beschäftigte zu besser bezahlten Jobs gewechselt. Von der Gastronomie beispielsweise in die Logistik.
Abgesehen von einigen wenigen Sonderfällen – wie eben dem von Corona besonders gebeutelten Gastgewerbe – hat es in Deutschland aber anders als in den USA keine große Kündigungswelle gegeben. Arbeitsmarktforscher Prof. Enzo Weber hat sich systematisch angeschaut, wie sich der deutsche Arbeitsmarkt während der Corona-Krise entwickelt hat. Demnach hat es keine nennenswerten Abwanderungsbewegungen gegeben. Stattdessen gab es deutlich weniger beendete Arbeitsverhältnisse als vor der Krise üblich. Es gab also kaum Bewegung auf dem Arbeitsmarkt. Das bedeutet aber auch, dass es nur sehr wenige Neueinstellungen gab. Daraus resultiert laut Prof. Weber der hohe Personalbedarf, der mit dem Anlaufen der Wirtschaft immer deutlicher wurde.
Millionen offene Stellen – und schwindende Mitarbeiterbindung
Für Arbeitgebende gibt es somit gleich zwei fundamentale Herausforderungen zu lösen. Einerseits die vielen offenen Stellen, die sich angesichts der Personalknappheit nur mühsam besetzen lassen. StepStone beziffert das Problem in seiner Studie mit 11,3 Millionen ausgeschriebenen Stellen. Bei 6,3 Millionen arbeitslos gemeldeten Menschen, ergibt sich ein Überangebot von fünf Millionen Arbeitsplätzen (Stand Februar 2022).
In einer so angespannten Arbeitsmarktsituation tut jeder Mitarbeitende, der abwandert, doppelt weh. Unternehmen müssen also dringend etwas tun, um die Mitarbeiterbindung nachhaltig zu steigern. Denn wir befinden uns gerade erst am Anfang des Fach- und Führungskräftemangels. Jedes Jahr gehen mehr Menschen in den Ruhestand, als auf den Arbeitsmarkt nachströmen. Die deutsche Erwerbsbevölkerung schrumpft, während wir es Migranten hierzulande immer noch schwer machen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Folge: Recruiting wird immer aufwendiger und teurer. Jeder Stuhl, der nicht leer steht, ist fast im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert.
3 Gründe, warum „The Great Resignation“ eine Chance ist
Zugegeben: Die Aussichten für Arbeitgebende sind nicht rosig. Der War for Talents wird noch ganz andere Dimensionen annehmen, als wir es heute gewohnt sind. Gewinnen können ihn nur die Unternehmen, die „The Great Resignation“ als Chance begreifen:
- Eine Chance, um die Arbeitsbedingungen und die Unternehmenskultur zu überdenken. Nie waren Investitionen in die Attraktivität der Arbeitgebermarke lohnenswerter als jetzt. Employer Branding wird zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor.
- Eine Chance, um aus dem Pool an potenziell wechselwilligen Talenten zu schöpfen. Getreu dem Motto: Was des einen Leid, ist des anderen Freud.
- Eine Chance, um das Kompetenz-Matching der Beschäftigten zu optimieren. Denn je besser Kompetenz-Soll-Profil und Kompetenz-Ist-Profil übereinstimmen, desto zufriedener und loyaler sind die Mitarbeitenden. Und Unternehmen profitieren zusätzlich von einer höheren Produktivität.
Was sich Arbeitnehmende von ihren Arbeitgebenden Wünschen
Die aktuelle Situation als Chance zu begreifen, reicht allein aber nicht aus. Unternehmen müssen auch handeln. Laut der StepStone-Studie zählen folgende Attraktivitätsfaktoren für Arbeitnehmende zu den wichtigsten:
- Flexible Arbeitszeiten (57 %)
- Sinnhafte Tätigkeit (54 %)
- Hohe Work-Life-Balance und Familienfreundlichkeit (54 %)
- Flexibles Arbeiten (z. B. Homeoffice) (51 %)
- Spannende Aufgaben (48 %)
- Passende Unternehmenskultur (47 %)
- Attraktive Sozialleistungen und Mitarbeitervorteile (46 %)
- Gute Weiterbildungs- und Trainingsangebote (46 %)
- Führungsstil und Vorgesetzte (46 %)
- Team und teamorientiertes Arbeiten (41 %)
- Gute Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten (38 %)
Die Studie geht noch einen Schritt weiter und die Kluft zwischen Wunsch und Realität. Mit 34 Prozent fällt diese Lücke bei der Work-Life-Balance und Familienfreundlichkeit am größten aus. Gefolgt von den guten Weiterbildungs- und Trainingsangeboten (27 %) sowie der passenden Unternehmenskultur (24 %). Flexibles Arbeiten durch hybride Arbeitsformen ist als Hygienefaktor hingegen längst ein Must-have und kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Je größer die Lücke zwischen Wunsch und Realität, desto größer das Verbesserungspotenzial.
Was Unternehmen jetzt tun müssen
Fragt man die Unternehmen, wird deutlich, dass viel Nachholbedarf bei den Attraktivitätsfaktoren besteht. Noch gravierender ist jedoch, dass selbst die Arbeitgebenden, die von sich behaupten, bestimmte Faktoren zu erfüllen, diese nur selten auch nach innen und außen kommunizieren.
Aus den Studienergebnissen lassen sich Rückschlüsse daraus ziehen, was Unternehmen tun sollten, um der „Great Resignation“ entgegenzuwirken. In aller Kürze:
- Mitarbeitende als Individuen mit individuellen Bedürfnissen betrachten und deren Erwartungen aktiv managen
- Mit einer gelebten Unternehmenskultur Orientierung geben und Sinn stiften
- Flexible Arbeitsbedingungen schaffen
- Talente, Stärken und Potenziale mit einer Kompetenzanalyse identifizieren und Mitarbeitende entsprechend einsetzen
- Persönliche Entwicklung von Arbeitnehmenden fördern, zum Beispiel durch Web Based Trainings
- Führungskräfte befähigen und entwickeln
- Interne Kommunikation zwischen allen Beschäftigten ausbauen und pflegen
- Arbeitsbelastung und mentale Gesundheit im Blick behalten, um im Bedarfsfall schnell gegensteuern zu können
Fazit: Arbeitgebende müssen sich positionieren
Auch wenn es in Europa nicht zur großen Kündigungswelle wie in den USA kommen sollte, stehen Unternehmen hier vor ganz ähnlichen Herausforderungen. Bestehen wird nur der, der sich für die wechselwilligen Arbeitnehmenden richtig positioniert. Dafür bedarf es jedoch weitaus mehr als mit ein paar Incentives garnierte Stellenangebote. Wer das, was er verspricht, nicht einhält und lebt, wird mit einer Fluktuationsrate leben müssen, die Unternehmensgewinne schneller auffrisst, als es die Krisen der letzten Jahre getan haben.
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